Wenn ein Wirkstoff als Medikament auf den Markt gebracht werden kann und das Potenzial für einen großen Erfolg hat, dann müssen die Produktionskapazitäten ausgebaut werden. So wird in Elberfeld gerade eine neue Produktionsanlage gebaut, die genügend Wirkstoff auch für einen „Blockbuster“ herstellen kann – für ein Medikament, das in großen Mengen benötigt wird. Wie etwa solche gegen Diabetes-bedingte Nierenkrankheiten. „Bayer erforscht bereits seit Jahrzehnten neue Therapieansätze für Herz-Kreislauf-erkrankungen. Seit 2010 hat das Unternehmen ganz gezielt an Nierenerkrankungen zu forschen begonnen“, sagt Eitner. Und ihn im Zuge dessen angeworben.
Denn dass die Niere ein entscheidender Faktor ist, ist statistisch klar. „Wir sehen etwa immer mehr Patienten mit Diabetes, die langfristig an die Dialyse müssen oder vor dem Nierenversagen stehen.“ Laut deutscher Diabeteshilfe gibt es aktuell bereits mehr als 8,5 Millionen Menschen mit Diabetes, pro Jahr geht man von 600.000 Neuerkrankungen aus. Bis 2040 wären das 12,3 Millionen Diabetiker. 30 bis 40 Prozent der Diabetiker erleiden in der Folge Nierenschäden. Das Team von Eitner kann dabei helfen, das zu behandeln. Die Zahlen verdeutlichen, warum Eitners Arbeit so wichtig ist. Bayer hat insgesamt in die Forschung investiert. Man sieht das an Gebäude 520, wo bis zu 380 Beschäftigte in 250 Laboren und Funktionsräumen arbeiten und forschen können.
Frank Eitner
Suche nach molekularen Angriffspunkten
Wenn Bayer neue Mittel entwickelt, stammt die Idee häufig aus Aprath, wo aktuell rund 100 Forscherinnen und Forscher Wirkstoffe gegen verschiedene Erkrankungen suchen – und zwar dort, wo sie passieren. „Man braucht Menschen, die ein molekulares Verständnis der Krankheit haben. Sie müssen die molekularen Angriffspunkte der Krankheit kennen“, sagt Eitner. Ein Team solcher Spezialisten hat bei der Suche nach neuen Wirkstoffen einen bestimmten Rezeptor im Blick, das Zielmolekül oder englisch „Target“, das für den Verlauf einer bestimmten Erkrankung entscheidend ist – viele Nicht-Mediziner kennen das Prinzip seit dem Corona-Impfstoff von Biontech, der ein bestimmtes Spike-Protein adressiert. Die Forscher mussten also einen Wirkstoff finden, der sehr präzise das tut, was er soll.
Ein Weg, die erkannten Zielmoleküle mit einem wirksamen Stoff zusammenzubringen, ist weitgehend automatisiert. In Gebäude 456 auf dem Campus Aprath stehen mehrere vollautomatisierte Anlagen. Auf einer dieser Anlagen können bis zu eine Million Wirkstoffe am Tag getestet werden. Dazu bewegen sich Roboterarme zu Behältern voller kleiner weißer oder schwarzer Kunststoffplatten, jede etwa so groß wie eine Handfläche – Mikrotiterplatten nennen die sich. In denen befinden sich jeweils 1.536 Vertiefungen, die meisten davon gefüllt mit verschiedenen Wirkstoffen. Bayer hat etwa 4,5 Millionen Wirkstoffe im Archiv, erklärt Bernd Kalthof, Abteilungsleiter innerhalb von Lead Identification and Characterization – also dem Bereich der frühen Bayerforschung, der nach Wirkstoffstrukturen und deren Nutzen sucht. Kalthof ist 58 Jahre alt, seit 28 Jahren bei Bayer, er ist Biologe. Er sagt, es könne immer wieder sein, dass bekannte Wirkstoffe auch Startpunkte zur Behandlung anderer Krankheiten sind.
Daher lohnen sich diese umfangreichen Testreihen. Zur Testung werden die Platten mit den Wirkstoffen zum Beispiel mit kleinen, automatisiert geführten Pipetten mit einem Enzym, dem herausgearbeiteten „Target“, gefüllt und im zweiten Schritt mit einem Substrat, das durch das Enzym abgebaut wird. Dadurch leuchtet es. Die Intensität des erzeugten Lichts wird dann durch passende Wirkstoffe beeinflusst. Die Platten kommen, wenn sie vollständig befüllt worden sind, in einen gewärmten Inkubator, wodurch die Arbeit der Enzyme beschleunigt wird. Ein Messgerät liest aus, welche Wirkstoffe zu einem Erfolg geführt haben. „Die Trefferquote darf nicht zu hoch liegen“, sagt Kalthof. Sie sollte unter einem Prozent liegen. „Die Mehrzahl der Wirkungen hier im Test ist nicht die, die wir uns wünschen.“ Wenn 40.000 Substanzen anschlagen, blieben höchstens einige Hundert, „die genau machen, was wir wollen“, so Kalthof.
Keine schnellen Erfolge
Allein die Entwicklung eines neuen Testverfahrens, das Kalthof und seine Kollegen durchführen, dauere sechs bis neun Monate, dann würden weitere sechs Monate in die Testung der 4,5 Millionen Substanzen und die Bewertung der Treffer investiert – also in die vertiefte Untersuchung der Substanzen, die angeschlagen haben. Vier bis fünf Jahre kann danach die Arbeit dauern, bis dabei ein Kandidat für klinische Studien herauskommt. Und weitere zehn Jahre dauere es dann oft noch bis zur Marktreife. Kalthof habe zwei Mal erlebt, dass tatsächlich ein Medikament entstanden sei. In mehr als 25 Jahren bei Bayer. Er und seine Kollegen seien nicht auf der Suche nach schnellen Erfolgen, sagt er. Sie sind Wissenschaftler. Sie wüssten, worauf sie sich eingelassen haben, sagt er lächelnd. Dafür sei jede neue Testreihe eine Herausforderung. Und mit jeder erweitere man sein Wissen über die Wirkstoffe, die Tests. Es sind andere Erfolgserlebnisse, die für Kalthof zählen. Auch wenn die Erfolge, die zugelassenen Medikamente, eben doch besondere Erlebnisse gewesen seien.
die genau machen, was wir wollen.
Bernd Kalthof
Standortleiter Maik Eckelmann (54) sagt, einen Wirkstoff gefunden zu haben, einen aus 10.000, der funktioniert, sei wie ein Pulitzerpreis für einen Journalisten. Eine so besondere Auszeichnung, ein so wertvoller Erfolg, das treibe die Mitarbeiter ein ganzes Berufsleben lang an. Vor allem aber gehe es ihnen darum, dass sie etwas für die Patienten täten. Leiden lindern, Leben verlängern oder im besten Fall Krankheiten sogar heilen. Manchmal bekämen sie Mails von Patienten, denen Bayer-Medikamente das Augenlicht gerettet oder den Krebs bekämpft hätten. Das motiviere die Mitarbeiter von der Forschung bis zur Verpackung.
Für Eckelmann ist Wuppertal als Gründungsstandort des Konzerns besonders, auch weil hier eben Forschung, Entwicklung und Produktion so nah beieinander liegen. Das gebe es nirgendwo sonst bei Bayer. Und auch, dass ein öffentliches Verkehrsmittel durch ein bestehendes Chemiewerk fahre, das gebe es sicher nirgendwo anders auf der Welt. Von Eckelmanns Fenster auf dem Elberfelder Werksgelände aus sieht man die hellblaue Bahn der Wuppertaler Stadtwerke in regelmäßigen Abständen vorbeifahren.
Aus der Schwebebahn heraus sieht man das Werk von oben – in voller Länge von etwa 1,7 Kilometern. Man sieht alte Backsteingebäude, die aber von innen mit hochmodernen Anlagen ausgestattet sind. Man sieht die roten Werksräder, die hundertfach vor den Gebäuden stehen. Die Produktionsbetriebe in Elberfeld laufen im Fünf-Schicht-System, 24 Stunden an sieben Tagen die Woche. Das ganze Jahr. Bayer schläft nie.
Hygiene ist das Wichtigste
Wenn man in das Reich von Julian Egger auf dem Elberfelder Gelände eintritt, heißt es „eintüten“. Besucher und Mitarbeitende können in die sogenannte Pilotanlage nur unter Einhaltung strenger Hygienevorschriften eintreten: Schutzanzug anziehen, zwei Paar Überschuhe, eine Kopfhaube und Schutzbrille. Gelbe Linien am Boden zeigen die Grenze zwischen Reinraum und Außenwelt. Hier hat Hygiene oberste Priorität. Es geht schließlich um Wirkstoffe für Medikamente.
Egger ist Betriebsleiter der Pilotanlage, 38 Jahre alt, promovierter Chemiker. Mit seinem Team ist er verantwortlich dafür, dass die Wirkstoffe, die an bestimmten „Targets“ ihre Arbeit machen, erstmals in größeren Mengen produziert werden – etwa für klinische Studien. Dafür bekommt er von den Verfahrensentwicklern in Elberfeld das Rezept – die Vorschriften, nach denen der Wirkstoff produziert werden kann. Bei Egger werden erstmals Mengen hergestellt, die abseits von Reagenzgläsern gebraucht werden. In acht Anlagen in dem Gebäude können diese in Reaktoren von 250 bis 1.600 Litern hergestellt werden.
Wer durch die Gänge des Gebäudes geht, alle hellgrau gefliest und absolut rein, steht immer wieder vor Glasscheiben und -türen, hinter denen sich raumhohe Chemieanlagen befinden. Es sind die kleineren auf dem Werksgelände, und doch sind sie beeindruckend groß. Den Anfang der Produktion findet man im obersten Stock – von wo aus man sich herunterarbeitet. Die Produktion folgt der Schwerkraft, die Wirkstoffe gehen immer weiter nach unten, folgen zahlreichen Rohren in Behälter aus Edelstahl oder Stahlemaille – je nachdem, was mit den zu produzierenden Mitteln zusammenpasst. Egger sagt: „Wir sind auf Flexibilität ausgelegt.“ Hier muss immer wieder schnell etwas Neues produziert werden können.
Die Ausgangsstoffe, aus denen ein Wirkstoff produziert werden soll, werden in großen Behältern zur Reaktion gebracht, mit festgelegten Parametern wie Zeit, Temperatur oder Konzentration. Alles unter strenger Festlegung aller relevanten Faktoren. Dann fließt das Gemisch abwärts, eine Etage tiefer, wo die Trennung von Feststoff und Flüssigkeit stattfindet – entweder über eine Filterplatte oder per Zentrifuge. In seltenen Fällen erfolgt eine Aufreinigung über eine Chromatographie. Letzteres ist ein Trennverfahren, bei dem Bestandteile einer Flüssigkeit nach ihrer Polarität, ihrer Ladung, getrennt werden können.
Egger sagt, die Pilotanlage sei der „Brückenkopf zwischen Forschung, Entwicklung und Produktion“. Was man dort lerne über die Herstellung einzelner Wirkstoffe, in Abstimmung mit der Entwicklung, sei extrem wichtig für die Produktion in großen Mengen. 75 verschiedene Stoffe habe man hier in einem Jahr schon hergestellt. Seit 22 Jahren, so alt ist der Betrieb in der Zwischenzeit, sei kaum eine Charge verlorengegangen, unsauber oder unbrauchbar gewesen, sagt Egger. Was hier angefasst wird, wird richtig gemacht. Davon profitiert im nächsten Schritt zum Beispiel Kathrin Gottfried.
Gottfried ist 51 Jahre alt, die promovierte Chemikerin leitet den Pharma 4 genannten Wirkstoffbetrieb auf dem Elberfelder Gelände. Was man bei Egger schon in „klein“ gesehen hat, erstreckt sich bei Gottfried über ganze Hallenetagen. Hier werden Vorstufen und Wirkstoffe in zwei Produktionsanlagen mit bis zu 8.000 Liter-Reaktoren hergestellt. Der ganze Betrieb ist auf Durchsatz ausgelegt – hier ist alles größer. Durch die Decken zwischen den Stockwerken ragen riesige Stahlkessel, grün lackiert, in die man nur durch Schaugläser hineinsehen kann.
Generell: Wer Wirkstoff, Pulver oder Tabletten sehen will, darf sich in Elberfeld wenig Hoffnung machen. Einzig am Anfang und am Ende, unterm Dach und im Erdgeschoss, sind manchmal Stoffe zu sehen – beim Einfüllen oder Verpacken. Das hat mit Hygiene zu tun, aber auch mit der Sicherheit der Mitarbeitenden.
Die Überwachung der Anlage passiert digital. Das „Herzstück“ der Anlage ist die Messwarte, wie Kathrin Gottfried sagt. Dort sitzen die Mitarbeiter an Pulten und steuern die Anlage. Auf Bildschirmen werden die Daten der Produktion als Kurven in verschiedenen Farben dargestellt. „Wenn etwas nicht stimmt, sieht man das sofort“, sagt Gottfried. Ein erfahrener Mitarbeiter erkennt sofort an Unregelmäßigkeiten im Kurvenverlauf, ob der Prozess bestimmungsgemäß verläuft.
Digitale Steuerung
Aber nicht nur grobe Fehler würden auffallen. Auch ganz feine. In den Rohrleitungen, so erklärt es Gottfried, sind unter anderem Siebe. Die Produktionsanlagen müssen rein sein, frei von Abrieb. So dürfen etwa Dichtungsringe in den Rohren keine Partikel verlieren. Sonst gefährdet das die Produktion. Und es dürfen keine Reste aus der Produktion anderer Stoffe in den Anlagen übrig bleiben. Eine gründliche Reinigung aller Anlagenkomponenten ist Teil des Jobs. Bei Gottfried ist es aber nicht „so steril“ wie zuvor in der Pilotanlage. Da alle Komponenten sich ausschließlich in den geschlossenen Reaktoren- und Rohrleitungssystemen bewegen, sind Besucher und Mitarbeitende keine Gefahr für die Reinheit. Dass in Pharma 4 auch mal etwas gefegt werden muss, sieht man nahe der Aufzüge – dort hängen Besen und Kehrbleche an der Wand – sauber aufgehängt, auf jeder Etage mit einer anderen Farbe markiert. Das Ordnungssystem soll es den Mitarbeitern leichter machen, Alltägliches zu finden. Es soll Zeit sparen helfen. Damit niemand mehr den Handbesen suchen muss, weil der keinen festen Platz hat. Alles soll so perfekt wie möglich laufen, nicht nur bei den chemischen Abläufen.
Ganz unten in dem Gebäude werden die fertigen Stoffe abgefüllt in riesige Plastiksäcke. Sie kommen zur Pressung und Verpackung in andere Werke der Firma. Beides findet in Wuppertal gar nicht statt. Hier ist das Ende der Wuppertaler Forschung, Entwicklung und Produktion – nach bis zu 15 Jahren Arbeit, von der Idee zum Produkt. Dass das künftig schneller geht, hofft der Nierenexperte Frank Eitner:
„Wir sind alle angefixt vom mRNA-Impfstoff gegen Covid19. Von der Idee bis zur Zulassung dauerte es nicht einmal ein Jahr. Das wollen wir auch, na klar.“ Auch wenn das in der Medizin eine absolute Ausnahme bisher war: Jedenfalls durch die Nähe von Forschung, Entwicklung und Produktion dürfte Bayer einen gewissen Vorteil haben. Der Ehrgeiz dafür ist in jedem Fall vorhanden.
Text: Eike Rüdebusch